Mittwoch, 16. Juli 2008

Hilflose Therapien

Die Medizin wie die Psychologie unterlagen im Laufe der Jahrzehnte wesentlichen Veränderungen und haben in vielen Bereichen gravierende Fortschritte gemacht. Das Durchschnittsalter steigt, immer bessere Behandlungsmethoden und Arzneimittel helfen. Doch noch immer gibt es viele Krankheitsbilder, bei denen auch die moderne Medizin machtlos ist. Und auch im Bereich der Psyche wäre es vermessen zu behaupten, die moderne Wissenschaft würde mehr als nur einen Bruchteil der menschlichen Psyche wirklich verstehen und hätte auf jede Frage eine Antwort parat.
Eine kurze "Patientenkarriere" im Anhang bietet einen interessanten Eindruck von den Veränderungen der Behandlungsmethoden im Laufe der Jahrzehnte und zeugt leider auch von der Hilfslosigkeit gegenüber manchen Krankheitsbildern. Auch heute noch.
Im Anschluss eine kurze Leseprobe aus "Medizin im 20. Jahrhundert.


11.07.08 - Das neue Buch aus der ÄP-Edition "Medizin im 20. Jahrhundert - Fortschritte und Grenzen der Heilkunst seit 1900" liefert einen spannenden und übersichtlichen Abriss über die vielen nachhaltigen Entdeckungen und Entwicklungen.

Die folgende, gleichermaßen prägnante wie tragische Fallgeschichte bietet einen ausgezeichneten Einblick in diese vielfältigen Strömungen innerhalb der Psychiatrie. Der Patient - nennen wir ihn X.Y.- wurde um 1900 als Sohn reicher deutsch-jüdischer Eltern in den USA geboren. Als er 15 Jahre alt war, begann er an Minderwertigkeitsgefühlen und einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber seinen Mitmenschen zu leiden. Ein amerikanischer Nervenarzt, vertraut mit den jüngsten wissenschaftlichen Errungenschaften des Faches, überwies ihn nach Zürich.

Dort begann X.Y. bei dem protestantischen Pfarrer und Laienanalytiker Oskar Pfister (1873-1956) eine psychotherapeutische Behandlung. Da dieser kein Arzt, sondern Seelsorger war, zog er den Lehrstuhlinhaber und Direktor der Anstalt Burghölzli, Eugen Bleuler (1857-1939), konsiliarisch hinzu. Der international renommierte und der Psychoanalyse gegenüber aufgeschlossene Universitäts-Psychiater konstatierte zwar eine "starke Störung", attestierte aber die Analysierbarkeit.

Nach zwei Jahren war kein wesentlicher Fortschritt erreicht, und so entschloss sich Pfister, den Patienten an Sigmund Freud (1856-1939) nach Wien weiterzureichen. "Dem Manne kann geholfen werden", befand der Begründer der Psychoanalyse, doch komplizierten Wahn- und Zwangsphänomene sowie fetischistische Neigungen den Verlauf. Den Eltern des Patienten gegenüber äußerte Freud die Diagnose "Paranoide Schizophrenie", um hinzuzufügen, das allein bedeute wenig.

Fünf Jahre später waren die Sitzungen beendet: X.Y. kehrte in ungebessertem, aber stabilem Zustand nach New York zurück, wo er sich anderen Psychotherapeuten anvertraute. Abgesehen von der Beteiligung einiger Protagonisten der psychiatrischen Szene bietet die Kasuistik bis zu diesem Moment wenig Ungewöhnliches; allerdings stand die dramatische Wendung noch bevor.

Das seelische Befinden des Kranken verschlechterte sich zunehmend, ein Suizidversuch kam hinzu, und er wurde in eine Anstalt eingewiesen. Bei den beteiligten Analytikern schwand die Hoffnung auf Heilung. Inzwischen hatte sich - wir befinden uns am Ende der 1930er Jahre - das psychiatrisch-therapeutische Arsenal erweitert: X.Y. gehörte zu den ersten Patienten in den Vereinigten Staaten, die an einem Insulinkoma-Programm teilnahmen. Wie der Krankenakte zu entnehmen ist, führte die Behandlung zu einer "vorübergehenden und leichten Besserung".

Die Elektrokrampftherapie kam ebenfalls zur Anwendung, gleichfalls ohne den erhofften Durchbruch zu bringen. Schließlich wurde bei X.Y. 1949 ein psychochirurgischer Eingriff durchgeführt, doch auch dieser vermochte den Zustand nicht spürbar zu verändern.

Damit endet diese leidvolle Krankengeschichte nach annähernd 50 Jahren. Der historische Index-Patient erlebte vier große therapeutische Innovationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Psychoanalyse, eine biochemische Behandlung, die Elektrokrampftherapie, eine Operation am Gehirn - ohne von einer Einzigen wirklich zu profitieren. Seine Reise von Freuds Couch zum Operationstisch jenseits des Atlantiks gestaltete sich alles andere als glücklich. Gleichzeitig verdeutlicht der wechselvolle Verlauf einige Brennpunkte der modernen Psychiatrie:

o Widersprüchliche Wege zum Verständnis und zur diagnostischen Einordnung psychischen Leidens.

o Unterschiedliche Formen des Umgangs mit Auffälligen, auch hervorgerufen durch divergente Menschenbilder und differierende gesellschaftliche Kräfte.

o Und nicht zuletzt gewaltige Veränderungen, aber auch ungelöste Probleme bei der Therapie seelischer Störungen.

"Medizin im 20. Jahrhundert" (ISBN 978-3-936506-33-4) kostet € 29,90.

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