Mittwoch, 2. Juli 2008

Gedächtnisweltmeisterin verrät ihre Techniken

Interview mit Christiane Stenger:
Was ist für Sie das Besondere am Gehirn?
Stenger: Das Gehirn ist etwas Faszinierendes. Wir tragen einen phantastischen Apparat mit uns herum. Das ist uns häufig nicht bewusst. Uns fällt immer nur auf, wenn unser Gehirn nicht funktioniert, beispielsweise wenn wir vergessen, etwas mitzunehmen. Den ganzen Tag über leistet das Gehirn aber immens viel und gewöhnlich schöpfen wir das Potenzial des Gehirns bei weitem nicht aus. Ich finde es unglaublich, mit welch einfachen Techniken man so viel aus ihm herausholen kann. Man kann das Gehirn nicht als eine biologische Festplatte betrachten. Unser Gehirn ist unendlich. Je mehr wir wissen, umso leichter fällt es uns, neues Wissen aufzunehmen


Sie hatten in der Grundschul- und Sekundarschulzeit große Probleme mit den schulischen Leistungen, obwohl Ihnen ein IQ von 145 attestiert wurde - eine überdurchschnittliche Intelligenz. Inwiefern hat das Gedächtnistraining Sie dabei unterstützt, auf einen grünen Zweig zu kommen?
Stenger: In der siebten Klasse ging es mir sehr schlecht. Schule erschien mir als der schlimmste Ort auf Erden. Mein Lateinlehrer sagte damals, wer keine Eins in Latein habe, könne nicht hochbegabt sein und es sei ein Fehler gewesen, dass ich in der Grundschulzeit eine Klasse übersprungen hätte. Das war nicht unbedingt motivierend. Meine Rettung war der Wechsel auf ein Internatsgymnasium. Mit mir saß vor den Lehrern eine Schülerin, die einerseits Juniorengedächtnis-Weltmeisterin war, andererseits die Note fünf in Mathe und Latein hatte. Da kann doch etwas nicht stimmen, haben die sich vermutlich gedacht. Und mir wurde in Aussicht gestellt, zwei Klassen zu überspringen, wenn ich mich in den Fächern Latein und Mathe verbessere und in der achten Klasse gute Noten schreibe. Im Internat hatten wir so genannte Studierzeiten, wo wir von 15 bis 17 Uhr in Ruhe die Hausaufgaben erledigen konnten. Wer früher mit seinen Aufgaben fertig wurde, löste Sonderaufgaben oder konnte ein Buch seiner Wahl lesen. Diese Kontinuität beim Lernen hat mir sehr geholfen. Meine Eltern hätten es nicht geschafft, mich dahin zu bringen, weil ich einfach zu unglücklich und zu stur war. Doch erst durch das Gedächtnistraining habe ich gelernt, mich auf den Punkt zu konzentrieren. Auf dem Gymnasium war ich beispielsweise noch sehr schlecht in Rechtschreibung. Ich machte 80 bis 90 Fehler in einem Aufsatz. Zum Glück gab es bei der Gedächtnisweltmeisterschaft eine Disziplin, bei der man in zehn Minuten ein Gedicht auswendig lernen und anschließend wortwörtlich wiedergeben musste, einschließlich der Rechtschreibung und Zeichensetzung. Durch das Training machte ich auf einmal keinen einzigen Fehler mehr und es gelang mir diese Disziplin zu gewinnen. Mir wurde klar: Du kannst es eigentlich, nur du hast es bisher nicht richtig gewollt.

Gab es für Sie ein Lieblingsfach?
Stenger: Mein Lieblingsfach war Kunst. Im Internat hat auch Mathe für mich seinen Schrecken verloren. Meine große Liebe wurde Schule zwar nicht mehr, aber ich habe mich mit ihr angefreundet und Frieden geschlossen.

Wie lange muss man trainieren, um Gedächtnisweltmeisterin zu werden?
Stenger: Mittlerweile trainiere ich eigentlich gar nicht mehr. Auch früher habe ich nicht viel geübt, weil ich schon immer ein sehr fauler Mensch war. Heute trainiere ich mein Gedächtnis beim täglichen Lernen oder beim Zeitung lesen. Das läuft nicht mehr bewusst ab. Wenn ich mir allerdings vornehme, mir etwas ganz genau zu merken, setze ich meine bewährten Techniken ein.

Welche Techniken denn?
Stenger: Beim Gedächtnistraining bringt man die Fähigkeit des Gehirns ein, dass wir uns beispielsweise die Dinge am besten einprägen, die wir uns gerne vorstellen und spannend finden. Das mache ich mir zunutze. Das Erinnern funktioniert so, dass man jede Information, die man sich merken möchte, genau visualisiert. Eine weitere Technik besteht darin, diese Begriffe miteinander zu verknüpfen, indem man sich eine kleine Phantasiegeschichte ausdenkt.

Eine Postleitzahl von Bonn lautet 53179. Wie würden Sie sich beispielsweise diese Zahl einprägen?
Stenger: Der Trick besteht darin, Zahlen in Bilder umzuwandeln. Für die Fünf könnte man sich eine Hand vorstellen, die Hand baut gerade einen Schneemann. Der Schneemann mit seinen Schneekugeln steht für die Drei. Der Schneemann wiederum umarmt einen Baum, der für die Eins steht. Auf dem Baum klettern Zwerge- bei Zwergen denkt man automatisch an die Sieben- und lassen einen Luftballon steigen, denn ein Luftballon mit Schnur sieht fast wie eine Neun aus.

Diese Technik setzt aber einen großen Aufwand voraus. Ist das nicht lästig?
Stenger: Ganz im Gegenteil, der Aufwand des Gehirns ist ja erwünscht. Denn diese Form der geistigen Tätigkeit bringt einen dazu, sich bewusst mit dem zu beschäftigen, was man sich einprägen möchte. Es ist das Gegenteil des stupiden Wiederholens. Das hört sich zwar umständlich an. Aber durch die Visualisierung und die Umwege, die man beim Erinnern geht, kann sich das Gehirn die Zahlen und Begriffe viel länger merken.

Sie haben mehrere Bücher über Gedächtnistraining geschrieben. Welche Tipps haben Sie für Schülerinnen und Schüler parat?
Stenger: Es kommt darauf an, das Gelernte in einen größeren Kontext einzubetten. Was weiß ich bereits zum Thema und wie kann ich das Neue mit dem mir bekannten Wissen verknüpfen? Jede Verknüpfung bringt einen weiter. Auch Eselsbrücken sind sehr hilfreich beim Lernen.

Sie nutzen Phantasie und Spannung, um sich Dinge besser zu merken. Was lesen Sie eigentlich gerne?
Stenger: Ich habe viele Lieblingsbücher, die ich gerne lese und möchte mich da nicht festlegen. Ich habe vor kurzem ein Buch von Ismael Beah gelesen: "Die Kindersoldaten". Das hat mir gefallen. Ich lese auch gerne Krimis, etwa von Donna Leon - ganz Unterschiedliches.

Christiane Stenger, 20 Jahre, ist eine anerkannte Gedächtnistrainerin und wurde mehrmals Juniorengedächtnisweltmeister. In der Grundschulzeit übersprang sie eine Klasse und in der Sekundarstufe sogar zwei - und absolvierte das Abitur mit 16 Jahren. Sie hat zwei Bücher über das Gedächtnistraining veröffentlicht: "Warum fällt das Schaf vom Baum?" (2004). Mit ihrem jüngsten Buchtitel "Das Gummibärchen im Spinat" (2007) hat Christiane Stenger eine Einführung ins Gedächtnistraining speziell für Kinder vorgelegt.

Das Interview führte Arnd Zickgraf
Text und Foto: Schulministerium NRW

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