Freitag, 6. Juni 2008

Wie erkenne ich Ess-Störungen?

MagersuchtNachfolgend ein kurzes Interview des Schulministeriums NRW mit Hr. Professor Dr. Stephan Herpertz,Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der LWL-Klinik Dortmund und gleichzeitig Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Themen sind Magersucht, Bulimie und Binge Eating.


Magersucht, Bulimie, Binge Eating: All diese Krankheitsbilder treten vorwiegend bei Mädchen etwa ab Pubertätsalter oder im frühen Erwachsenenalter auf. Nicht immer sind die Anfänge einer solchen Essstörung für den Außenstehenden leicht zu erkennen. Professor Dr. Stephan Herpertz ist Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der LWL-Klinik Dortmund und gleichzeitig Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Essstörungen zählen zu seinen Spezialgebieten.

Frage: Wer ist von welcher Art der Essstörung besonders betroffen?

Herpertz: Magersucht ist das seltenste Krankheitsbild. Sie tritt meist bei Mädchen zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr zum ersten Mal auf. Weitaus häufiger ist die Bulimie, zwischen zwei und vier Prozent aller Menschen erkranken daran. Auch hier sind besonders junge Frauen ab 16 Jahren betroffen. Bulimikerinnen haben unkontrollierbare Fress-Attacken, wollen aber nicht zunehmen und ergreifen deshalb Gegenmaßnahmen. Das kann Erbrechen sein, aber auch nach dem Fress-Anfall zwölf Stunden gar nichts zu essen oder am nächsten Morgen vor der Arbeit 40 Kilometer zu radeln. Die häufig benutzte Bezeichnung "Ess-Brech-Sucht" ist also irreführend.

Frage: Und wie sieht es mit Binge Eating aus?

Herpertz: Davon sind zu 40 Prozent auch Männer betroffen. Diese Menschen haben ebenfalls Fress-Anfälle, sie unternehmen aber nichts gegen eine Gewichtszunahme. Deshalb geht das Krankheitsbild meist mit Übergewicht einher. Meistens beginnt auch diese Störung zwischen dem 16. und dem 20. Lebensjahr, sie kann sich aber auch durchaus noch später entwickeln.

Frage: Wie kann ich als Außenstehender, zum Beispiel als Lehrerin oder Lehrer, erkennen, dass eine Essstörung vorliegt?

Herpertz: Bei einer Magersucht ist das recht einfach. Die Mädchen zehren aus, das ist ein klarer Blickfang. Bei der Bulimie ist das deutlich schwieriger. Fast immer liegt eine klare Selbstwertproblematik vor...

Frage: Aber ist das nicht ohnehin häufig in dem Alter?

Herpertz: Doch, in der Spätpubertät und Adoleszenz haben fast alle Menschen Selbstwertprobleme. Aber Magersüchtige und Bulimikerinnen machen den Selbstwert am eigenen Körper fest; nur noch das Gewicht zählt.

Frage: Was ist noch normales Experimentieren mit Diäten, wann wird es krankhaft?

Herpertz: Wenn ich eine Diät mache, muss ich ja weniger essen, als der Körper haben will. Ich bekomme Hunger, werde aggressiv oder depressiv. Aber ich habe die kognitive Kontrolle über meine Körperkräfte, und das gibt mir ein gutes Gefühl. Bei der Magersüchtigen geht das immer so weiter. Die Bulimikerin verliert irgendwann die Kontrolle und schlingt alles in sich hinein, was sie kriegen kann. Und weil sie ja nicht zunehmen will, muss sie diese Kalorien schnell wieder loswerden. Zum Beispiel durch Erbrechen. Zunächst erleben viele das Brechen sogar als befreiend, weil sie endlich nicht mehr hungern müssen, sondern ohne Folgen essen können, so viel sie wollen. Zu diesem Zeitpunkt wird ein Außenstehender von der Krankheit noch nichts bemerken.

Frage: Wann ändert sich das?

Herpertz: Der Leidensdruck steigt in dem Moment, wenn sich das verselbständigt und die Frauen ihre Fress-Anfälle nicht mehr steuern können. Die Gedanken sind tunnelblickartig reduziert auf Essen, Gewicht, Aussehen und Waage. Das geht mit einem deutlichen körperlichen und geistigen Leistungsabfall einher. Außerdem oft mit sozialem Rückzug, weil sie sich nicht beobachtet fühlen wollen. Ab diesem Moment können auch Lehrer die Krankheit bemerken.

Frage: Wie sollen sie in einer solchen Situation am besten reagieren?

Herpertz: Auf jeden Fall die Schülerin darauf ansprechen. Am besten argumentiert man mit seiner eigenen Sorge, etwa: "Du wirkst so unkonzentriert, was ist denn los?". Und wenn daraufhin nur ein Schulterzucken kommt: Den Verdacht auf die Krankheit klar und deutlich äußern. In dem Alter wissen alle Mädchen, was Bulimie ist. Das Stichwort sollte man unbedingt nennen; ein vorsichtiger Eiertanz bringt da nichts.

Frage: Wenn nun aber das Mädchen alles abblockt?

Herpertz: Ich würde es mit einem zweiten Gespräch versuchen, vielleicht gibt es eine Kollegin, die noch einen besseren Zugang zu der Schülerin hat. Erst wenn die Verweigerung hartnäckig ist, würde ich die Eltern einschalten, allerdings mit Wissen der Schülerin.

Frage: Und was, wenn sie ihr Problem zugibt?

Herpertz: Dann sollte man nachfragen, wie lange das schon andauert. Die meisten Bulimikerinnen können beispielsweise das erste bewusste Erbrechen genau bestimmen, oft sogar mit Datum. Gerade bei kurzer Krankheitsdauer lässt sich Bulimie auch recht gut ambulant behandeln. In den meisten größeren Städten gibt es entsprechende Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen, die da weiterhelfen.

Frage: Wie sieht es bei Magersucht aus?

Herpertz: Hier muss unbedingt der Hausarzt kontaktiert werden, weil die körperlichen Folgen viel dramatischer sind. Meist ist eine stationäre Therapie notwendig. Derzeit läuft aber eine bundesweite Studie unter anderem in Dortmund, Essen und Münster, um herauszufinden, inwiefern leichte Fälle von Magersucht eventuell auch ambulant behandelt werden können.

(Interview: Christina Lüdeke),
Quelle:Schulministerium NRW-Bildungsportal


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