Dienstag, 19. Januar 2010

„Eltern müssen das letzte Wort haben.“

Interview mit dem Diplom-Psychologen Dietmar Langer von der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Gelsenkirchen, über das „Abenteuer Pubertät"

Herr Langer, Pubertät ist zwar keine Krankheit, dennoch kommt es massiven Umstellungen im Körper. Welche sind das?

Diplom-Psychologe Langer: Mal abgesehen von den hormonellen Veränderungen, die ja hinlänglich bekannt sein dürften, wissen wir aus der aktuellen Hirnforschung, dass während der Pubertät im Gehirn durchaus enorme Umbauprozesse stattfinden. Das hatte man jahrzehntelang gar nicht so vermutet. Aber es kommt tatsächlich zu neuen synaptischen Verbindungen, was ja nichts anderes als "lernen" bedeutet. Früher dachte man, dass der Mensch sozusagen einen Pool an Verbindungen hat, die er sich im Rahmen der Schwangerschaft und frühen Kindheit zugelegt hat - und was nicht benutzt wird, baut sich dann allmählich ab. Das aber ist in der Pubertät dann doch anders. Hier kommt es zu einem Intelligenzschub, was neurologisch bzw. hirnphysiologisch auch messbar ist.


Kommen wir aber noch mal kurz zur hormonellen Umstellung, die ja in dieser Lebensphase nicht unwesentlich ist.

Diplom-Psychologe Langer: Keine Frage, in der Pubertät haben wir natürlich im Vordergrund die körperliche Entwicklung, die durch Hormone ausgelöst wird. In erster Linie spielt hierbei die Ausschüttung von Stresshormonen eine wichtige Rolle: Vieles, was bislang im Leben der Jugendlichen sicher schien, wird in der Pubertät auf die Probe gestellt. Sie kommen von einem Leben, das von Abhängigkeit geprägt war, nun in die Erwachsenenwelt, in der sie mehr und mehr auf sich allein gestellt sind. Die Jugendlichen sind damit körperlich und geistig unter Stress, und unter Stress ist nun mal niemand wirklich kooperativ. Aber man sollte es nicht darauf beschränken. Das ist ja nur der physiologische Ausdruck dessen, was sich auf vielen Ebenen verändert. Unter Stress schränkt sich natürlich auch die Konzentrationsfähigkeit ein, womit wir beim Thema Schule und dem Abfallen der Schulnoten wären. Im Schnitt gehen die Noten während der Pubertät ja um eine Zensur runter. Das ist erzieherisch nicht beeinflussbar. Dessen muss man sich bewusst sein. Man kann da als Eltern nur den Rahmen konstant halten.

Das klingt für viele Eltern bestimmt eher ernüchternd, wenn sie eigentlich nur weitgehend untätig zusehen können und den Veränderungen freien Lauf lassen müssen.

Diplom-Psychologe Langer: Na ja, völlig freien Lauf sollten sie ihren Kindern natürlich nicht lassen. Aber die Kinder brauchen die Eltern eher im Hintergrund. Das heißt wiederum, dass Eltern das nicht unbedingt persönlich nehmen dürfen, wenn die Mädchen zickiger werden oder die Jungs ihre Aggressionen austoben; das muss halt irgendwo hin.

Das sagt sich jetzt natürlich so leicht. Woran erkennen Eltern denn, dass das Verhalten ihres Kindes nun tatsächlich auf die Pubertät zurückzuführen und nicht etwa besorgniserregend ist?

Diplom-Psychologe Langer: Das ist natürlich immer die Frage, ganz so einfach lässt sich das natürlich nicht erkennen. Sicherlich aber lässt sich so etwas über einen gewissen Zeitraum ablesen, über den Verlauf und über das Alter. Bei den Mädchen geht es im Schnitt im Alter von 10 Jahren los, bei den Jungs im Schnitt zwei Jahre später. Das ist sicherlich ein erster Marker, der darauf schließen lässt, dass ein Verhalten doch eher mit der Pubertät zu erklären ist. Ob nun aber doch eher eine schief gelaufene Erziehung daran schuld ist, lässt sich meist nur abschätzen, wenn das Verhalten chronisch wird. Das heißt, dass es über einen längeren Zeitraum in vielen Bereichen immer schlimmer wird.

Was heißt in diesem Zusammenhang "über einen längeren Zeitraum"?

Diplom-Psychologe Langer: Da reden wir schon über ein paar Monate, vielleicht so drei bis vier Monate.

Viele Erzieher beobachten, dass die Pubertät immer früher einsetzt. Ist dem tatsächlich so? Oder sind wir als Gesellschaft da eigentlich nur sensibler für das Thema?

Diplom-Psychologe Langer: Nein, das ist tatsächlich so. Die Pubertät setzt immer früher ein, weil wir auch immer früher aus der Kindheit herauskommen und schon eher gefordert werden, am Leben teilzunehmen. Die Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt verwischt zunehmend. Vor einigen Jahrzehnten war das noch nicht der Fall. Wenn man sich allerdings einige Naturvölker anschaut, bei denen die Pubertät noch früher einsetzt, können wir davon ausgehen, dass es eher unnormal ist, dass die Pubertät so spät einsetzt wie sie es bei uns in den letzten Jahrzehnten getan hat.

In der Steinzeit war es selbstverständlich so, dass ein Junge im Alter von 15 Jahren auf dem Höhepunkt seines Lebens war. Ganz einfach deshalb, weil die Lebenserwartung damals im Schnitt gerade mal bei nur knapp 30 Jahre lag und er seine Sippe ernähren musste. Sprich: Die Pubertät hat also eigentlich in dieser Lebenszeit aus biologischer Sicht ihr Gutes. Heißt das umgekehrt, dass heute dank modernster Medizin einfach nur das Leben "zu lang" ist für diesen ursprünglichen biologischen Rhythmus?

Diplom-Psychologe Langer: Sagen wir es mal so: Der Zeitraum der höchsten Leistungsfähigkeit reicht ungefähr bis zum Alter von 18 Jahren; dann haben wir allmählich schon wieder einen Rückgang zu verzeichnen. Aber das sind natürlich alles Zwischenhirnprozesse, die nichts damit zu tun haben, was wir bewusst denken oder überlegen. Wir versuchen ja, mit den Jugendlichen zu reden und sie zur Räson zu bringen. Aber was da abläuft, diese biologischen Grundmechanismen, die sind auf einer ganz anderen Ebene im Gehirn angesiedelt, also nicht bewusst steuerbar. Deswegen versteht sich der Jugendliche ja manchmal auch selbst nicht. Er ist im Gespräch ja durchaus nicht unvernünftig, macht dann aber doch anschließend genau das Gegenteil.

Sie halten Vorträge, unter anderem zum Thema "Abenteuer Pubertät" ?

Diplom-Psychologe Langer: ... richtig, das ist übrigens der Vortrag, der am meisten nachgefragt wird ?

... woran liegt es, dass ausgerechnet dieser Vortrag auf so großes Interesse stößt? Liegt es vielleicht daran, dass das Thema durch Sende-Formate wie "Super-Nanny" erst so viele "Antennen" in den Köpfen der Eltern gefunden hat?

Diplom-Psychologe Langer: Dass Pubertät überhaupt mal zum Thema geworden ist, würde ich ja noch als Vorteil verstehen. Früher war das ja unter fernerliefen, man musste auch kein Profi sein, um zu erziehen. Das ist inzwischen anders. Heute verlangt man von vielen Erziehern, dass sie studiert haben. Erziehung kriegt dadurch einen gewissen Stellenwert, was gut ist. Auf der anderen Seite hat sich Pubertät aber auch geändert: Wir erleben in unserer Klinik immer wieder, dass die Kinder und Jugendlichen heute ein ganz anderes Kaliber als vor 15 Jahren haben. Das heißt, die Verhaltensmuster werden immer exzessiver. Wir haben zum Beispiel viele Kinder, die schon monatelang nicht mehr zur Schule gegangen sind. Sie sind dermaßen unter Stress, leiden unter Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Infekten usw. Die psychosomatischen Krankheiten nehmen zu, Depressionen, Verhaltensauffälligkeiten, Aggressionen. Viele Eltern werden dem nicht mehr Herr.

Welche Rolle spielen Medienberichte wie jüngst über Minderjährige, die sich ins Koma saufen? Sind solche Verhaltensmuster tatsächlich mehr geworden? Oder haben wir nur mehr Kameras, die auf solche Fälle draufhalten?

Diplom-Psychologe Langer: Zunächst einmal: Jugendliche haben natürlich immer Mist gemacht, zu allen Zeiten. Sie haben halt das genommen, was gerade "in" war. Allerdings hat es diese exzessiven Auswüchse nicht gegeben, was sich eben mit dem zunehmenden Stress erklären lässt. Die Kinder haben bereits von klein auf ein wesentlich höheres Stressmaß zu verarbeiten als wir das noch in unserer Kindheit mussten. Wer ein hohes Stresspotential hat, sucht erst mal nach Spannungslösern, das ist ganz normal. In unserer Kultur ist das sicherlich der Alkohol oder auch der Sport. Da man sich unter Stress allerdings auch schlechter organisieren kann, verlassen viele Jugendliche dann auch wieder die Vereine und rotten sich mehr in losen Gruppen zusammen.

Welchen Tipp können Sie Eltern geben, die trotz Pubertät noch ein einigermaßen harmonisches Familienleben aufrecht erhalten wollen?

Diplom-Psychologe Langer: Eltern sollten auf gemeinsame Zeit mit ihrem Kind bestehen. Oft machen Eltern ja den Fehler, indem sie denken: "Gut, wenn er nicht will, dann halt nicht". Die Jugendlichen werden sicherlich nicht freiwillig zugeben, dass sie grundsätzlich gern mit ihren Eltern zusammen sind. Diese "Ernte" fahre ich als Eltern sicherlich nicht ein, aber die Jugendlichen werden dadurch etwas kooperativer. Das Zwischenhirn, in dem soziale Kontakte gespeichert werden, rechnet allerdings nur Zweierkontakte. Es hilft also nichts, als Familie etwas gemeinsam zu unternehmen. Im Zweifel wird sich ein Kind z.B. nach einem Familienbesuch auf der Kirmes immer noch nicht beachtet fühlen, weil es hier nicht um die Zweierbeziehung, sondern um einen Ausflug als Familie ging.

Viele Eltern versuchen, ihren pubertierenden Kindern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen - als Zeichen, dass sie sie ernst nehmen wollen. Ist das eine richtige Strategie, eher die Kumpel-Schiene zu fahren?

Diplom-Psychologe Langer: Nein, Eltern sind immer Eltern, niemals Kumpel. Kinder sind nämlich grundsätzlich hierarchisch denkende Wesen. Ein Phänomen, was übrigens auch wieder in der Zwischenhirne-Ebene angesiedelt ist, also ebenfalls nicht willentlich beeinflusst werden kann. Wenn ich als Elternteil nun als Kumpel auftrete, bin ich keine Führungsperson - also sagt sich das Kind: "Auf den muss ich nicht hören". Als Elternteil bin ich immer mindestens einen Tick über dem Kind, weil ich Entscheidungen über Rahmenbedingungen treffe. Eltern müssen das letzte Wort haben.

Aber auch Eltern sind doch einem gewissen Stress ausgesetzt.

Diplom-Psychologe Langer: Das ist richtig. Viele halten die Spannung weniger aus und neigen deshalb auch dazu, eher nachzugeben. Diese Entwicklung passiert aber nicht erst in der Pubertät. In der Pubertät sehen wir nur erst, was bereits fünf, sechs Jahre vorher in der Kommunikation zwischen Eltern und Kind schief gelaufen ist.

Wie können Eltern ihre Kinder in der Pubertät konkret unterstützen?

Diplom-Psychologe Langer: Eltern müssen Stress aus dem Alltag des Kindes nehmen, Auszeiten gewähren. Sie müssen ihre Erwartungen an das Kind, die vielleicht manchmal etwas zu hoch sind, zurückschrauben. Zudem müssen sie eigene Empfindsamkeiten zurückstellen. Das ist natürlich alles leicht gesagt, aber genau zu diesen Punkten kommen wir auch immer in den Therapiemaßnahmen. Die Eltern wissen ja auch meistens, was richtig wäre, sie kriegen es oft nur aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht hin, das auch einzufordern und umzusetzen. Alte Muster von früher spielen immer wieder mit rein. Auch die gilt es zu ändern.

Quelle Schulministerium NRW, Bildungsportal

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